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  • AutorenbildJochen Mack

„Wir müssen das System erweitern“

oder: Weshalb wir neue Formen der beruflichen Qualifizierung brauchen



Das Problem


Eine Person, die die Berufsschule nicht schafft, kann in Deutschland keine fachliche Berufsqualifizierung absolvieren. Menschen mit Lernschwierigkeiten (und dazu zählen wir auch Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung), können aus diesem Grund nur allgemeine berufsorientierende Maßnahmen absolvieren, aber kein Zertifikat erlangen, das sie als fachlich ausgebildet in einem bestimmten Beruf auszeichnet.

Anders formuliert: Es fehlen Ausbildungsgänge, die zwischen dem Niveau „Fachpraktiker:in“ und der Ausbildung in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) angesiedelt sind. Diese müssten sehr praktisch orientiert sein, damit die Auszubildenden das lernen, was sie im später in ihrem Beruf auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt brauchen. Es entspricht auch den Voraussetzungen der Zielgruppe, die Praxisfelder zu reduzieren und sich auf einen Bereich zu konzentrieren. Auch die Theorie muss auf die Zielgruppe angepasst sein und sich auf das konzentrieren, was später im Alltag hilfreich ist und gebraucht wird. Das heißt konkret: Kein allgemeinbildender Unterricht in einer Berufsschule, sondern fachliche Unterweisung in branchenspezifischen Themen.

Der Mangel an passenden Ausbildungsgängen führt dazu, dass jungen Menschen mit Lernschwierigkeiten nur der Weg in eine Werkstatt bleibt. Dies kann für einige junge Menschen der richtige Weg sein, allerdings ist anzustreben, dass es auch Alternativen gibt und die Wege auf den allgemeinen Arbeitsmarkt für die Zielgruppe überhaupt erst zugänglich gemacht werden.



So könnte eine Lösung aussehen


Das Modell, das wir als einsmehr gGmbH in Augsburg für die Hotelbranche entwickelt haben, sieht aktuell so aus: In einem einjährigen pädagogisch begleiteten Lehrgang werden die Teilnehmer:innen nach einer vierwöchigen Einführungsphase vor allem in Kooperationshotels des allgemeinen Arbeitsmarkts in der Praxis qualifiziert. Sie arbeiten in der Regel drei Wochen pro Monat in einem Betrieb mit und bekommen dann eine Woche Blockunterricht.

Im Unterricht werden die Erfahrungen reflektiert und es erfolgen Unterweisungen zu hotelspezifischen Themen: „Wie funktioniert ein Hotel?“ „Umgang mit Gästen“, „Hygiene am Arbeitsplatz“, … Darüber hinaus werden im Blockunterricht wichtige allgemeine Kenntnisse vermittelt, zum Beispiel über die Rechte und Pflichten als Arbeitnehmer:in auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, über die Arbeit in einem Team oder über Kommunikation am Arbeitsplatz.

Am Ende der zwölf Monate steht eine praktische und mündliche Prüfung. Dort zeigen die Absolvent:innen, ob sie die Inhalte der Qualifizierung erfasst haben und fachlich in der Lage sind, die ihnen gestellten Aufgaben zu erfüllen. Bestehen sie diese Prüfung, bekommen sie das hauseigene Zertifikat Hotelpraktiker:in, mit dem sie sich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bewerben können.


Die strukturellen Herausforderungen


Für dieses Modell der beruflichen Qualifizierung gibt es viel Zuspruch. Allerdings sind alle Versuche bisher gescheitert, solche Formate zu finanzieren. Dies hängt damit zusammen, dass es eine Finanzierung für Ausbildung nur geben kann, wenn sie im gesetzlichen Rahmen stattfindet. Und dieser Rahmen endet auf dem Ausbildungsniveau Fachpraktiker:in. Deshalb kann eine Agentur für Arbeit aktuell keine Teilnehmer:innen in einer solchen Qualifizierung fördern.

Mit dem Mindestniveau Fachpraktiker:in verbunden ist unter anderem auch das Instrument des Budgets für Ausbildung. Dieses wurde eingeführt, um Menschen mit Beeinträchtigung einen Zugang zu einer Ausbildung zu schaffen. Allerdings sind Personen, die nicht lesen und schreiben können, von diesem Budget für Ausbildung ausgeschlossen, da sie das Niveau Fachpraktiker:in nicht erreichen können. Dies ist sicher ein wesentlicher Grund, weshalb das Budget für Ausbildung bisher eine beschämend niedrige Resonanz erfährt. Nach einigen Jahren gibt es bundesweit noch immer weniger als 100 neue Fälle pro Jahr.

Mit dem gesetzlichen Rahmen verbunden ist auch die Möglichkeit, ein IHK-Zertifikat zu verleihen. Da Ausbildungen unterhalb des Niveaus Fachpraktiker:in nicht gesetzlich geregelt sind, sieht auch die IHK keine Möglichkeit, hier tätig zu werden.


Ein möglicher Lösungsweg


Wir schlagen einen bundesweiten Modellversuch in verschiedenen Branchen vor, in dem neue Formen der beruflichen Qualifizierung für Menschen mit Lernschwierigkeiten ausprobiert werden. Es müssen in einem solchen Projekt Standards und Kriterien entwickelt werden, wie eine sinnvolle und für die Zielgruppe gerechte Qualifizierung aussehen kann, die auch die nötigen Kenntnisse vermittelt, damit die Absolvent:innen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehen können. Auf der Basis der gemachten Erfahrungen muss eine neue Form der Qualifizierung gesetzlich verankert werden.


Die Entstehungsgeschichte


Vor der Eröffnung des Hotels einsmehr stand ein einfacher Gedanke: Damit die angehenden Mitarbeiter:innen mit einer (geistigen) Beeinträchtigung gut in ihr Berufsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt starten können, brauchen sie eine gute und angemessene Vorbereitung.

Glücklicherweise konnte die einsmehr gGmbH die Sternstunden des Bayerischen Rundfunks für ein dreijähriges Projekt gewinnen, mit dem eine solche Qualifizierung entwickelt werden konnte. Nachdem diese sehr erfolgreich war, konnte die einsmehr gGmbH die Aktion Mensch dafür gewinnen, mit einem neuen Projekt weitere konzeptionelle Schritte zu gehen und das Modell in anderer Form weiter zu erproben.

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